In Wiesbaden wird noch bis zum 17. Juni 2023 ein überlanger elektrischer Doppelgelenkbus des Typs HESS “lighTram 25 OPP” getestet. Nach Ablehnung der CityBahn sind überlange Busse eine Möglichkeit, die Kapazität auf den Hauptachsen des Wiesbadener ÖPNV – wenn auch erst mittelfristig ab 2028 – zu erhöhen.
Der Verein Wiesbaden neu bewegen e.V. begrüßt, dass Stadt und ESWE Verkehr endlich die (schon immer bekannten, wenn auch nicht voll ausgearbeiteten) Alternativen zur CityBahn angehen. Seit dem CityBahn-Aus hat sich die Situation im Wiesbadener Verkehr deutlich verschlechtert, wozu auch der Kollaps der Salzbachtalbrücke und der Personalmangel im ÖPNV beigetragen haben. Wer in der Wiesbadener Innenstadt den Bus benutzt, merkt jeden Tag, dass ein “weiter wie bisher” nicht mehr funktioniert.
Erste Eindrücke
Die ersten Rückmeldungen zum Doppelgelenkbus von Busfahrern sowie von Wiesbadener Bürgern, aus Politik und Medien, scheinen positiv. „Es darf jedoch nicht der irrige Eindruck entstehen, dass der Kauf größerer Busse allein die Lösung ist und weitere Maßnahmen (hin zu einem vollumfänglichen BRT-System (Bus Rapid Transit) oder zu einer Straßenbahn) langfristig überflüssig macht“, sagt Alexander Mehring, als 1. Vorsitzender des Verein Wiesbaden neu bewegen e.V.; „Doppelgelenkbusse und entsprechende Haltestellen machen alleine noch kein volles BRT-System. Und keines von beidem kann eine Straßenbahn vollends ersetzen.“
Zahlen hinterfragen
Vor einer Anschaffung von Doppelgelenkbussen fordert Wiesbaden neu bewegen e.V. eine sorgfältige Untersuchung der Rahmenbedingungen und Kosten. So müssen bei der Kapazität, der Lebensdauer sowie den Infrastrukturkosten realistische Annahmen getroffen werden. Die bei der Vorstellung des Testbusses kolportierten Zahlen sind zu hinterfragen.
- Fahrgast-Kapazität:
Die genannte Kapazität von 200 Fahrgästen beruht in erster Linie auf den Stehplätzen. Bei den genannten 162 Stehplätzen käme man auf 7-8 Personen/qm, was einem attraktiven ÖPNV widerspricht. Der Verband der deutschen Verkehrsunternehmen empfiehlt, Stehplätze mit höchstens 4 Personen/qm zu berechnen. In Zürich, wo ähnliche Busse in Überlänge verkehren, kommt man mit dieser Formel auf maximal 105 Stehplätze (und insgesamt maximal ca. 150 Fahrgäste). Mehr Infos.
- Lebensdauer:
Die durchschnittliche Lebensdauer von Bussen liegt bei 10-15 Jahren. Bei überlangen Bussen sind, vor allem bei Straßenunebenheiten, besonders die Gelenke großen Belastungen ausgesetzt. In Hamburg und Aachen mussten Doppelgelenkbusse daher bereits nach 13 Jahren ausgemustert werden. Der Hersteller Hess gibt eine Lebensdauer von 20 Jahren für seine Doppelgelenkbusse an. Insbesondere die Lebensdauer der Batterien, die einen erheblichen Teil (ca. 25%) der Anschaffungskosten ausmachen, liegt jedoch deutlich darunter. Ersatzbatterien sind also in jedem Fall einzupreisen. - Ladeinfrastruktur:
In Basel fährt der Doppelgelenkbus mit einer realistischen Reichweite von 40-100 Kilometern Reichweite (200km ist lediglich das theoretische Maxium auf ebener Strecke). Für einen ganztägigen Einsatz wird an den Endhaltestellen nachgeladen. Nachladen an Lademasten spart Leerfahrten und lohnt sich. Auch die Kosten für diese Ladeinfrastruktur müssen in die Gesamtrechnung einfließen. Auch sind die durch Doppelgelenkbusse entstehenden Mehrkosten beim Bau eines neuen Betriebshofes zu berücksichtigen. - Haltestellenumbau:
Zu prüfen sind auch die Konsequenzen, die aus der Verlängerung von Haltestellen entstehen. An Haltestellen nahe Grundstückseinfahrten etc. scheint es fraglich, ob 50m überhaupt zu realisieren sind. Bisher ist Wiesbaden schon beim barrierefreien Ausbau von Haltestellen deutlich im Rückstand. Der jeweilige Ausbau auf 50 Meter ist ein enormer Kostenfaktor, der ebenfalls bei einer Entscheidung berücksichtigt werden muss. - Abnutzung der Straßeninfrastruktur:
Nicht zu unterschätzen ist auch die Abnutzung der Straßenbeläge und die Belastung der unter der Straße liegenden Kanalisation. Beim Straßenbahnbau wäre die Kanalisation an andere Stelle verlegt worden, um nicht direkt unter der Trasse zu liegen. Ein Doppelgelenkbus hat die gleichen Achslasten wie ein 40-Tonner-Lkw und belastet die Straße im Vergleich zu einem Pkw um etwa das 160.000-fache. Mehr Infos.
Wiesbaden neu bewegen e.V. fordert, alle diese Kosten bei der Entscheidung für oder gegen Doppelgelenkbusse einzubeziehen. Der Vergleich zu den Kosten und Nutzen des Systems Straßenbahn muss ehrlich sein.
„Wir wollen, dass sich Politik und Bürgerschaft klar zwischen Alternativen entscheiden können und müssen. Ein reines Dagegen-Sein, ohne Rücksicht auf die Konsequenzen, darf es nicht mehr geben”, stellt Alexander Mehring, 1. Vorsitzender des Vereins Wiesbaden neu bewegen e.V. klar. Dazu gehört neben einer validen Betrachtung der Kosten auch die Frage nach der Skalierbarkeit des Systems bei weiter steigenden Anforderungen, beispielsweise durch neue Pendelverkehre aus neuen Wohngebieten im Taunus und dem Ostfeld. Ein gutes Beispiel wäre die Analyse der Landeshauptstadt Kiel. Dort stimmte man in diesem Frühjahr für den Aufbau eines hochwertigen Straßenbahnnetzes.
Fazit: Wiesbaden neu bewegen e.V. begrüßt den Einsatz von Doppelgelenkbussen zur mittelfristigen Verbesserung der Situation, sieht sie jedoch langfristig nur als Ergänzung bzw. als Vorstufe zu einem Straßenbahnsystem.
Über Wiesbaden neu bewegen e.V.
Der Verein Wiesbaden neu bewegen e.V. ist 2021 aus der Bürgerinitiative Bürger Pro CityBahn Wiesbaden e.V. hervorgegangen. Auch und insbesondere nach dem ablehnenden Entscheid zur CityBahn engagieren sich Menschen aus Wiesbaden und Umgebung weiter für eine echte Verkehrswende in der Landeshauptstadt und einen nachhaltigen Ausbau des Öffentlichen Nahverkehrs in unserer Region. Ein gleichberechtigtes Miteinander der Verkehrsmittel ist dabei Voraussetzung für eine Stärkung des Umweltverbundes aus Fuß-, Rad- und Nahverkehrsmobilität. Wir verstehen die Verkehrswende als einen essentiellen Baustein auf dem Weg zu einer lebenswerteren, verkehrsärmeren und menschenfreundlichen Stadt.